Dirk Baeckers Studien zur nächsten Gesellschaft
Ursprünglich auf Empfehlung von Karl-Josef Pazzini las ich schon vor einiger Zeit Dirk Baeckers im Lettre International (Nr. 77, Sommer 2007, S. 82-85) erschienen Beitrag über „Die nächste Universität“. Nach weiteren Recherchen in ebenfalls höchst interessanten Texten in Dirk Baecker’s Web Journal hätte ich ihn gern bei der geplanten Ringvorlesung Medien & Bildung, Semesterthema „Die digitale Zukunft der Universität“ in Hamburg gehabt. Leider musste er jedoch absagen und kann im Sommersemester nicht dabei sein. Er verwies außerdem darauf, dass er seine Überlegungen zur nächsten Universität schon einmal in Hamburg vorgetragen hat. Siehe dazu das kurze Statement im Podcampus.
Umso lesenswerter ist darum sein neustes Buch „Studien zur nächsten Gesellschaft“, in dem auch jener o.g. Text zur „Universität der nächsten Gesellschaft“ enthalten ist. Baecker geht aus von „nichts Geringerem […] als der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor nur die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks.“ (Studien zur nächsten Gesellschaft, S. 7)
Baecker schließt damit an „die von Marshall McLuhan, Manuel Castells, Niklas Luhmann und anderen [nicht zuletzt Régis Debray, TM] formulierte Vermutung, dass nur Weniges eine so große Bedeutung für die Strukturen der Gesellschaft hat wie das jeweils dominierende Verbreitungsmedium“ und kommt zu der Anschlussannahme, „dass sich die Universität der auf Schrift basierenden Hochkultur der antiken Adelsgesellschaft von der Universität der auf Buchdruck basierenden Moderne ebenso sehr unterscheidet wie Letztere von der auf dem Computer beruhenden »nächsten Gesellschaft«, wie der Managementdenker Peter F. Drucker sie getauft hat.“ (S. 102f)
Im Überblick:
Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft,
die Einführung der Schrift die antike Hochkultur,
die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und
die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft (= Gesellschaft 2.0?)
Die Universität der nächsten Gesellschaft wird laut Baecker „die Themen ihrer Lehre und die Problemstellungen ihrer Forschung in den Horizont und Kontext der Weltgesellschaft stellen. Und sie wird sich eine elektronische Infrastruktur schaffen, die es ihr erlaubt, ein eigenes Gedächtnis im Umgang mit der Kontrollstruktur einer hochgradig verteilten Gesellschaft zu erwerben und zu pflegen.“ Das sollte bei den gegenwärtigen Diskussionen über zukünftige ICT-Strategien zwischen den FIOs der einzelnen Fakultäten und CIO der Universität Hamburg ebenso wie selbstverständlich auch im Projekt ePUSH mitbedacht werden: „Wenn die Zeichen des Web 2.0 nicht trügen, wird sie ihren Ehrgeiz nicht zuletzt auch dort investieren, wo es darum geht, sich eigene web agents und information robots auszudenken und einzusetzen, die das Datenuniversum nach eigenen Selektionsregeln durchforsten, und mit eigenen web services aufzuwarten, die dieses Universum Studierenden, Dozenten und Praktikern zugänglich machen.“ (S. 114)
Für das Selbstverständnis der an der Universität der nächsten Gesellschaft arbeitenden Wissenswerker ist auch dieser Ausblick (der meiner Wahrnehmung nach schon keiner mehr ist) erhellend: Eine Promotion an der Universität der nächsten Gesellschaft „hätte nicht mehr den kritischen Umgang mit Büchern, sondern den operativen Umgang mit Komplexität zum Paradigma. Sie würde auf Seiten der Betreuer wie der Promovenden von vornherein damit rechnen, dass jede Realitätsebene, auf die man sich einlässt, nur eine Perspektive unter anderen Perspektiven erschließt und daher die Existenz der anderen Perspektiven so mit ins Kalkül nehmen muss […] Mitten in der Flut der Daten, eingebettet in einen Wissenschaftsbetrieb, der produktiv ist wie selten zuvor in der Wissenschaftsgeschichte der Gesellschaft, eingesperrt in eine Universität, die rücksichtsloser als je zuvor in den Dienst einer sich selber nur schlecht als Wissensgesellschaft verstehenden Gesellschaft gestellt wird, unterstützt von Computern, die mit der Möglichkeiten der Visualisierung noch der kompliziertesten Phänomene faszinieren, muss der Promovend erkennen, dass er nichts weiß. Er muss erkennen, dass er systematisch nichts weiß, das heißt nur dann Zugang zur Systemform des Wissens gewinnt, wenn er die Ignoranz im gezielten Sinne aktueller Erkenntnistheorie, das heißt im Sinne eines »ethischen«, wenn nicht »kybernethischen« Könnens pflegt.“ (S. 143f)
Eine wunderbar treffende Formulierung von Dirk Baecker noch: „Nach wie vor können Wetten darauf abgeschlossen werden, worin die Kulturform bestehen wird, die der Überforderung der aktuellen Gesellschaft durch den Computer gewachsen sein wird.“ (S. 125)
Vorab lesenswert sind auch die Rezensionen in der FAZ und – ganz frisch – in der taz.