Von der Bildung des Menschen zur Bildung der Communities?

[Abstract – Beitrag zur internationalen Forschungskonferenz „I hoch 4 – Interaktivität / Information / Interface / Immersion“, FAMe – Frankfurt / Forschungsnetzwerk Anthropologie des Medialen, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M., Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, 26.-28.10.2007]

Das Buch war nicht nur in metaphorischem Sinn das bevorzugte Behältnis der großen Erzählungen. Mit der massenhaften Reproduktion des druckbaren Wissens nahm auch die große Erzählung von der „Bildung des Menschen“ ihren Lauf. Das humanistische Großprojekt und das graphosphärische Wissensmanagement bedingen einander.
In seinem „Bericht“ über das postmoderne Wissen hatte Lyotard jedoch schon geahnt, was in der „informatisierten Gesellschaft“ – nun in der Version 2.0 – wirklich und wirkend geworden ist: Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr. Wissen wird zu etwas Äußerlichem, zum Ding und zur Ware. Davon bleibt die „Natur des Wissens“ – so Lyotard – nicht unbehelligt und auch die Institutionen, die das Wissen produzieren, und jene, die das Wissen transportieren, bleiben nicht unbehelligt.
Aus mediologischer Perspektive sind deshalb die Universität, die Schule, das Museum (und auch die Familie) als „Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens mit dem Auftrag, das geistige Vermächtnis lebendig zu halten“ (Debray), vor einige Herausforderungen gestellt. Der virtuelle Campus und die Schule am Netz (noch vielmehr das Internet im Kinderzimmer) haben nicht einfach nur mit neuen Kanälen für Texte, Bilder und Töne zu tun, sondern auch mit neuen „Gesten“ (Flusser) des Archivierens und den davon eingerahmten Formen des Wahrnehmens und des Wissens.
Dabei lässt sich beobachten: Das Verhältnis zwischen den Medien der Verbreitung von Wissen im Raum (Ubiquität) und den Medien der Verbreitung von Wissen in der Zeit (Historizität) wird zunehmend prekär. Die digitalen Infrastrukturen vergrößern die territoriale Reichweite (Globalisation), verkürzen aber die chronologische (Paideia). Die Gestalt der Zeit strebt in der digitalen Mediosphäre zum Punkt. Der Event und seine Performanz bestimmen die Gültigkeit von Wissen. Mit den Erzählungen von der Aufklärung und der Emanzipation, der Geschichte, dem Fortschritt, dem Diskurs der Wahrheit und der Vorstellung vom Wissen schaffenden Subjekt als kartesischem cogito hat das immer weniger zu tun.
Wenn in der Folge das Individuum als erkenntnistheoretisches Paradigma an Bedeutung verliert zugunsten des Wissen schaffenden Projekts und der sich darum bildenden Community, kann oder muss dann gar über eine Grund legende „Theorie der Bildung der Communities“ nachgedacht werden – mit der gleichen Tragweite, wie über die (auch anthropologischen) Grund legende „Theorie der Bildung des Menschen“ (Humboldt) nachgedacht wurde?