Next Art(s) Education im Theater

Im vergangenen Jahr habe ich viele Vorträge im Theater-Kontext gehalten. Bei den Stippvisiten über den Tellerrand meiner eigenen Disziplin habe ich viele interessante Einblicke gewonnen, Neues über Darstellung und Darstellbarkeit, Dramaturgie und Postdramaturgie gelernt, den schönen (und auch für die bildende Kunst sehr brauchbaren) Begriff Schau-Spiel endlich verstanden, interessante Menschen kennengelernt, neue Kontakte geknüpft, neu über die v.a. von Konstanze Schütze und Julia Dick auch in die Lehre unseres Instituts (v.a. auch im Studiengang Ästhetische Erziehung) eingebrachte Performance Art nachgedacht und die Next Art Education nun deutlich interdisziplinärer im Plural der Künste als Next Art(s) Education zu denken gelernt.

Ein paar Eindrücke aus meinen Besuchen der Theaterfestivals in Stuttgart und Bremen im vergangenen Sommer und die damit zusammenhängenden Überlegungen zur Next Art(s) Education habe ich Wolfgang Schneider in einem Interview erzählt, das in Ausschnitten im Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater 2015 der ASSITEJ Deutschland, XYPSILONZETT, S. 12-15 abgedruckt ist:

Wolfgang Schneider: Welche drei bemerkenswerten Eindrücke hatten Sie vom Theater für ein junges Publikum bei „Hart am Wind“ und „Schöne Aussicht“?

Torsten Meyer: Da kommt mir als erstes „Staring Girl“ von der Zonzo Compagnie aus Belgien in den Sinn. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich habe es in Stuttgart gesehen. Ich war sehr gefangen von der medialen Inszenierung. Ich hätte für diese Altersgruppe (Empfehlung ab 10 Jahren) Langweiligeres erwartet. Statt dessen haben mich die vielschichtigen Mediatisierungen in Bühnen- und Beamerbild, Ton/Musik, Sprache und – wie nennen Sie das im Fach? – imaginäre Präsenz dieses Schau-Spiels fasziniert. Solch komplexe Verdichtungen und ästhetische Abstraktionen hätte ich nicht erwartet. Und um es schlicht zu sagen: Es war einfach schön.

Ein zweiter Eindruck, hängt mit dem ersten zusammen: Insgesamt scheint es unter den Kinder- und JugendtheatermacherInnen eine weitaus größere Toleranz gegenüber komplexen Darstellungsformen zu geben, als ich das aus meinem eigenen Fach, der pädagogischen Auseinandersetzung mit bildender Kunst, gewohnt bin. Im Gegensatz zu meinen FachkollegInnen sind mir keine TheatermacherInnen begegnet, die Angst vor so genannten („medial vermittelten“) „Sekundärerfahrungen“ haben und auf vermeintlich un-mittel-bare „Primärerfahrungen“ schwören. Das ist erfreulich. Virtualität ist ein wesentliches Phänomen der Kultur des 21. Jahrhunderts. Es ist wirklich wichtig, dass Kinder und Jugendliche lernen, mit komplexen Virtualitäten umzugehen – zum Beispiel im Rahmen kultureller Bildung.

Staring Girl, Zonzo Compagnie

Dritter Eindruck, das hat auch wieder mit meiner fachlichen Außenperspektive zu tun: Man scheint aneinander Interesse zu haben. In den Gesprächsrunden, aber auch in der allgemeinen Atmosphäre bei beiden Festivals, die ich erlebt habe, war das spürbar. Man hört einander zu, teilt sich mit, schaut einander ins Nähkästchen und profitiert von den Erfahrungen und Ideen, die an anderen Orten ausgeheckt wurden. Insgesamt eine sehr kommunikative Atmosphäre. Theater geht, anders als (die klassische Vorstellung von) bildende(r) Kunst ohne Teamwork wohl nicht.

Hat das, was in Bremen und Stuttgart auf der Bühne verhandelt wurde, etwas mit der von Ihnen beforschten Generation C zu tun?

Tatsächlich habe ich leider gar nicht so viele Inszenierungen wahrnehmen können. Ich konnte nur für Stippvisiten dabei sein. Dennoch sind mir vor allem zwei Dinge in Bezug auf die Generation C aufgefallen: 1. Während ich im Publikum saß – übrigens bei allem, was ich gesehen habe, ganz klassische Trennung von Bühnenraum und Publikum. Da hat es, soweit ich weiß, zwischenzeitlich auch andere Formen gegeben –, also klassischer „Zuschauer“, „Empfänger“ war, während auf der Bühne „gesendet“ wurde, fragte ich mich, ob dieses klassische Sender/Empfänger-Setting – der Medienphilosoph Vilém Flusser nennt das sogar den „Theaterdiskurs“ –, ob dieses Sender/Empfänger-Setting, das Ausgangspunkt für unser Verständnis von Massenmedien des 20. Jahrhunderts ist (Theaterbühne –> Filmleinwand –> Fernsehbildschirm), ob dieses one-to-many-Setting noch irgendwie kompatibel ist mit den Erwartungen der Digital Natives, deren kulturelle Umwelt durch die Social Media des 21. Jahrhunderts und ein damit verbundenes, potentielles many-to-many-Setting geprägt ist. Vielleicht muss man auch im Theater mit dem Second Screen rechnen, einem parallelen Kanal, mit dem Smartphone, Tablet o.ä., das zum Beispiel meine Kinder (wie auch ich inzwischen) während des Fernsehens für parallele Kommunikation benutzen.

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Korallenfische* sind andersrum, Theater zwischen den Dörfern

Aber, das wäre die 2. Überlegung, vielleicht muss man das auch gar nicht so konkret denken. Tablets oder Twitterwalls während der Vorstellung sind möglicherweise interessante Experimente, aber wichtiger scheint mir, dass Theater grundlegend in so einem Internet State of Mind gemacht wird, wie ich das zum Beispiel bei „Korallenfische sind andersrum“ (Theater zwischen den Dörfern) in Bremen beobachtet habe. Da war spürbar, dass die Produktion aus einem solchen Selbstverständnis heraus entwickelt wurde.

Wie beschreiben Sie Perspektiven, Methoden und Ergebnisse der Weltaneignung heute?

Oh, das ist eine große Frage. Und „Weltaneignung“ ist für mich ein problematischer Begriff. Das ist mir zu sehr aus einer Perspektive des ästhetischen und pädagogischen Subjekts des 18. und 19. Jahrhunderts gedacht. Das menschliche Individuum als Subjekt steht der Welt als Objekt gegenüber und eignet sich diese an. Damit habe ich bildungstheoretische Probleme. Ich glaube, dass veränderte Medialität auch zu veränderter Subjektivität führt. (Falls es tiefer interessiert, vor kurzem ist dazu ein Buch erschienen „Subjekt Medium Bildung“, das ich gemeinsam mit Benjamin Jörissen herausgeben habe)

Die Generation C muss man hier eher als Kollektiv verstehen. Die Bildung des Verhältnisses von Ich und Welt geschieht im Rahmen einer Participatory Culture, wie das der Medienkulturwissenschaftler Henry Jenkins nennt. Die Mitglieder der Generation C verstehen sich selbst in einer großen sozialen Gemeinschaft mit anderen. Und sie sind davon überzeugt, dass ihr Beitrag zählt, dass es ein Interesse der Gemeinschaft gibt an dem, was sie sagen, schreiben, posten, bloggen, kommentieren usw. Das legt die aktuelle Medienkultur nahe. Die kulturelle Umwelt der Generation C ist geprägt durch relativ niedrigschwellige Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks und des sozialen und politischen Engagements. Das fördert die Entwicklung neuer Ideen und die öffentliche Teilhabe daran. „Digital technology has lowered the barriers that once stood between Joe Public and his artistic cousins“, schrieb Jake Pearce über die Generation C, “It’s all about creativity.” C steht (u.a.) für creativity.

Der andere Punkt, den ich für die Bildung des Verhältnisses von Ich und Welt in der Generation C für wesentlich ansehe, ist so eine postironische Haltung der Welt gegenüber (vgl postirony). Die 1990er Jahre waren auch alltagskulturell geprägt von der mit der philosophischen Postmoderne zusammenhängenden Haltung, die nichts mehr wirklich ernst nimmt, weil – wie Jean-Francois Lyotard es eindrücklich fasste – das „Ende der großen Erzählungen“ gekommen war. Die Aufklärung, die Vernunft, der Fortschritt, der Kommunismus, die Liebe, die Kunst … – alles „große Erzählungen“ der Moderne, die nun vorüber ist. Dazu kann man sich nur noch ironisch – d.h. auf eine bestimme Weise virtuell – verhalten. Und nun kommt eine neue Generation, die inmitten dieser Ironie (und Virtualität) aufwächst, die aber dennoch ein eigenes Leben gestalten muss, weil es diese Chance auf die Gestaltung eines eigenen Lebens – ganz im Ernst – nur ein einziges Mal gibt. Heraus kommt dabei offenbar so etwas wie ein ironischer Ernst. Eine Ernsthaftigkeit, die weiß, dass man das alles eigentlich nur ironisch meinen kann. Und zugleich eine abgrundtiefe Ironie, die man wegen dieses Abgrunds sehr, sehr ernst nehmen muss.
Ironische Auseinandersetzung mit der Welt heißt, die Dinge nicht so ganz nah an sich heran zu lassen und immer einen virtuellen Abstand zur Welt, zum Realen zu halten. Quasi aus einer zweiten, anderen, subjektiven, virtuellen Welt heraus auf die Dinge der ersten zu blicken. Ein Prä-Ironiker hingegen wäre ein naiver Realist, er steht inmitten der Welt und der Dinge und denkt sich nichts dabei. Auch die Post-Ironiker der Generation C stehen (wieder) mit beiden Füßen auf dem Boden, mitten im Realen (aber in einem anderen Realen), und sehen sich wieder im Sumpf des Irdischen (mit Betonung auf „wieder“). Sie wissen vom Virtuellen, von der Distanz, der Ironie, dem Uneigentlichen, dem Abstand zwischen dem Sein und dem Schein und kreieren daraus ein neues Sein (hinter dem Schein): Postironie ist ein Realismus zweiter Ordnung.

Die „Generation C“ beschreibt das Internet als Teil der Realität. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus für ein Theater für junges Publikum?

Ja, die Generation C versteht das Internet als „constantly present layer of reality“, wie das Piotr Czerski in seinem Web Kids Manifesto so schön formuliert hat: „we do not ‘surf’ and the internet to us is not a ‘place’ or ‘virtual space’. The Internet to us is not something external to reality but a part of it: an invisible yet constantly present layer intertwined with the physical environment.“

In dieser Formulierung wird deutlich, dass man diese „Neuen Medien“ (wie wir Digital Immigrants manchmal noch sagen) besser nicht zu konkret denken sollte. Wie eben schon angedeutet, Tablets oder Twitterwalls während der Vorstellung sind möglicherweise interessante Experimente. Aber dieser Internet State of Mind, den auch Piotr Czerski hier in Worte fasst, den erreicht man dadurch nicht automatisch. Nochmal das Beispiel „Korallenfische sind andersrum“: Dort tauchte zwar das Internet ganz konkret in Form von zu Beispiel Videoblogs auf, aber viel wichtiger scheint mir der Eindruck, dass das ganze Stück grundlegend aus diesem Internet State of Mind heraus entwickelt wurde. Dass das Nachdenken über Geschlechter und Rollenklischees und Möglichkeiten, damit lebenspraktisch umzugehen, vor dem Hintergrund all dessen, was durch das Internet zugänglich und deshalb denk- und vorstellbar ist, was in diesem layer of reality gesagt, gedacht, gesehen werden kann, geschieht. Und dieses Nachdenken über Geschlechter und Rollenklischees und Möglichkeiten, damit lebenspraktisch umzugehen, geschieht auch bei den „Korallenfischen“ tendenziell aus einer postironischen Haltung heraus, die ich der kulturellen Realität des 21. Jahrhunderts sehr angemessen finde.

Im Rahmen des Frankfurter Autorenforums 2013 formulierten Sie folgende Frage: „Wie entsteht ein gemeinsames Subjekt im kollaborativen Prozess?“ Diese Frage stellt sich in Theaterprojekten regelmäßig. Welche Antworten ergeben sich daraus aus ihrer Sicht für die Darstellenden Künste?

Oh, ich weiß nicht, ob ich darauf sinnvoll antworten kann. Mich hatte ja aus meinem Fach, der bildenden Kunst, heraus interessiert, wie das bei Ihnen im Theater funktioniert. So etwas wie „kollaborative Kreativität“ – so der Titel eines sehr interessanten Promotionsprojekts von Gesa Krebber bei mir an der Uni Köln – ist in der bildenden Kunst eher unüblich. Der bildende Künstler ist traditionsgemäß eher das potentiell autistische Schöpfer-Genie des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Kunstunterricht, in der Schule allgemein, wird Bildung in diesem Sinne auf das Individuum als Subjekt bezogen gedacht. Echte, ernst zu nehmende Kollaboration ist dort selten. Das passt aber nicht mehr zum Selbstverständnis der Generation C. Deshalb hatte mich interessiert, wie solch ein kollaboratives Subjekt im Theaterkontext hergestellt wird. Da wollte ich lernen von Ihnen und etwas mitnehmen für mein Fach.

Ich selbst kenne so etwas wie so ein kollaboratives Subjekt eher aus eigenen Erfahrungen beim Musikmachen. Dieses Gefühl, das ich noch aus frühen Jahren im Übungsraum und manchmal auf der Bühne kenne, der Bassist meiner damaligen Band hatte es schön in Worte gefasst: „Groove ist, wenn man sich nur noch blöde angrinst.“ Aus solchen Erfahrungen heraus versuche ich mit meinen Studierenden in Köln an Fragen kollaborativer Kreativität im Kunstunterricht zu arbeiten. Wie kann man sich eine Band aus MalerInnen, BildhauerInnen und FotografInnen vorstellen, die gemeinsam an Projekten visueller Kommunikation arbeiten? Und zwar an wirklich groovy Projekten!

Viel kann ich also gar nicht dazu sagen, was das für die Darstellenden Künste heißt. Aber eines scheint mir recht sicher: die Formen von Kreativität, die in den darstellenden Künsten üblich sind, sind offenbar solche, die der kulturellen Umwelt des 21. Jahrhundert sehr gerecht werden. Solche Formen muss man einüben. Und daraus könnte man zum Beispiel bildungspolitische Schlüsse ziehen.

In welcher Weise verändert sich die Beziehung zwischen der Geschichte (was wird erzählt) und der theatralen Form (wie wird erzählt) durch die Veränderungen in der (digitalen) Welt?

Ich gehe davon aus, dass die theatralen Formen komplexer werden. Das Publikum der Generation C hat sehr viel mehr Erfahrung mit jeglichen Formen von Darstellung und hypermedialer Intertextualität als jede Generation zuvor. Und die jungen TheatermacherInnen natürlich ebenso. Auch die sind zunehmend Digital Native, denken in komplexeren medialen Arrangements und Ebenen der Repräsentation als jede Generation von TheatermacherInnen zuvor. Und das neue Publikum wird das mitmachen, weil es diese komplexen Formen des medialen Bezugs, die copy-pasting, Hack und Remix auf allen möglichen Ebenen vollziehen und dabei virtuos mit den Klischees und Gewohnheiten alter Medien spielen, von klein auf gewohnt ist. Diesem Publikum kann man vieles zumuten. Es ist mit den Simpsons, mit Scary Movie und Circus HalliGalli aufgewachsen. Deshalb werden die theatralen Formen dichter und komplexer.

In diesem Sinne hat mich die anfangs angesprochene Inszenierung „Staring Girl“ der Zonzo Compagnie sehr erfreut. Da wird dem jungen Publikum einiges zugemutet an medialer Vielschichtigkeit und theatraler Form. Aber es funktioniert. Das junge Publikum ist begeistert, hat mir die Festivalleitung erzählt. Die Kinder können damit umgehen, sie haben Erfahrungen mit Virtualitäten und medialer Imagination. Und falls noch nicht, dann müssen sie es unbedingt lernen für die eigene Überlebensfähigkeit im 21. Jahrhundert.

Theater ist kulturelle Bildung. Dies behaupten insbesondere die Kinder- und Jugendtheater und erarbeiten zugleich unterschiedlichste Formate der Vermittlung als Teil des künstlerischen Schaffens. Wie kann Ihre „Neukonzeption“ des Bildungsbegriffs zukünftige Vermittlungsprozesse ermöglichen?

Ich hege Bedenken gegenüber einem schulpädagogischen Verständnis von Bildung, das den Bildungsprozess zwar in der Tradition des ersten Bildungstheoretikers, Wilhelm von Humboldt, als Transformationsprozess von Selbst- und Weltverhältnissen versteht, dabei aber diesen Transformationsprozess nicht interaktiv denken kann. Humboldt sprach hier wörtlich von „Wechselwirkungen“ zwischen dem Ich und der Welt. Es wirkt also sowohl die Welt in das Ich, als auch das Ich in die Welt hinein. Dem Geist der Aufklärung gemäß darf man bei Humboldt die Transformationsprozesse von Selbst- und Weltverhältnissen wohl auch im Bereich kultureller Innovation, also Veränderung der Welt, nicht nur des Selbst denken. Mit Blick auf aktuelle schulische Realitäten scheint diese Perspektive allerdings sehr unüblich. In der Regel wird bei den schulpädagogischen Transformationsprozessen wohl vorwiegend das Selbst des Schülers als der veränderliche Parameter gedacht, während Welt in der Schule (in Form von Lehrplänen, Methodenrepertoires usw.) als konstant angesehen wird. Die produktive Krise, die zu Bildung führen soll, hat das Schüler-Selbst, nicht die Welt.

Ich frage mich nun, ob man das vor dem Hintergrund der umfassenden kulturellen Innovationsprozesse, mit denen wir zurzeit konfrontiert sind, auch interaktiv denken kann. Könnte auch Welt in eine produktive Krise geraten? Und als transformierte aus einem Bildungsprozess hervorgehen? Die Frage klingt komisch, liegt aber gar nicht so fern, wenn man sich z.B. mit den Bildungspotentialen von Cultural Hacking beschäftigt. Als künstlerische Strategie ist Cultural Hacking eine praktizierende Auseinandersetzung mit Selbst- und Weltverhältnissen in Form wirklicher Eingriffe in Welt. Dabei kann tatsächlich Welt ein Stück weit in eine Krise geraten, wenn ein Cultural Hacker sich nicht so verhält, wie es die Welt erwartet und mit seinem Hack Interpretationsherausforderungen provoziert, die nicht mit trivialen Alltagskommunikationsgewohnheiten bewältigt werden können, sondern als Störung des Welt- und Selbstverhältnisses zur Kenntnis genommen und weiter produktiv bearbeitet werden müssen. Das kann dann gemäß Humboldts Formel zu Bildung führen, hier dann nicht als Selbst-Bildung, sondern – klingt komisch, aber das sollten wir einen Moment ertragen – als Welt-Bildung. Es bildet sich Welt. (In diesem Sinne ist dann nebenbei bemerkt das Wort Schul-Bildung auch wieder ganz interessant!)

Die von Ihnen beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen bringen auch ein neues Bild der Kunst und des Künstlers hervor. Benutzt wird vorhandenes Material, das im Sinne eines „Cultural Hacking“ neu und anders zusammenzusetzen ist. Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie für das Theater, das sich dezidiert den „Digital Natives“ zuwendet?
Ja, der Kunsttheoretiker Nicolas Bourriaud hat das ziemlich gut beschrieben. Die KünstlerInnen der Generation C verstehen sich selbst nicht mehr als avantgardistische Schöpfer-Genies, die Neues, nie Gesehenes hervorbringen, sondern sie fragen, wie aus dieser chaotischen Masse von symbolischen Objekten, Namen, Referenzen, die unser tägliches Leben konstituieren, persönliche Bedeutung und singulärer Sinn entstehen können. Diese KünstlerInnen beziehen sich nicht mehr auf ein Feld der Kunst als Hochkulturmuseum, voll mit Werken, die „zitiert“ oder „übertroffen“ werden müssen. Sie beziehen sich auf die globale Zeitgenossenschaft als die von allen geteilte Welt, als „weltweiter Raum des Austauschs“, in dem die KünstlerInnen herumwandern, browsen, sampeln und kopieren wie DJs und Flaneure in Raum und Zeit.

Bourriaud nennt das treffend „Postproduction“ – ein Begriff aus dem Vokabular der TV- und Filmproduktion, der sich auf Prozesse bezieht, die auf das bereits aufgenommene Rohmaterial angewendet werden: Montage, Schnitt, Kombination und Integration von Audio- und Video-Quellen, Untertitel, Voice-Overs und Special Effects.

Mein Fach, die bildende Kunst betreffend geht es also nicht mehr um die Produktion von zum Beispiel schönen oder neuen Bildern, sondern um den Umgang mit all den schönen und neuen Bildern im Vorrat des (inter-)kulturellen Erbes, das uns der „weltweite Raum des Austauschs“ zur Verfügung stellt. Das Bild ist nicht mehr Ziel der Kunst, sondern deren Rohstoff und Material.

Das kann man vermutlich genauso denken für das Theater. Es geht nicht mehr um die Geschichte, die erzählt wird, sondern um den symbolischen Umgang mit den vielen Geschichten, die schon erzählt wurden. Und es geht um die kulturellen Codes und Formen alltäglicher Lebenswelt, die damit zusammenhängen. Das kann man, wie Sie sagen, als Cultural Hacking verstehen: Statt rohes Material (im Fall meines Fachs leere Leinwand, Tonklumpen etc.) in schöne oder neue Formen zu verwandeln, machen die KünstlerInnen der „Postproduction“ Gebrauch vom kulturell Gegebenen als Rohmaterial, indem sie vorhandene Formen und kulturelle Codes remixen, copy/pasten und ineinander übersetzen.

Wie kann ein Theater für die nächste Gesellschaft aussehen, das sich den sich verändernden gesellschaftlichen Prozessen stellt und bereit ist, auf und vor der Bühne in Produktion und Rezeption angemessen zu reagieren?

Mit der „nächsten Gesellschaft“ sprechen Sie ein Konzept an, das der Soziologe und Kulturtheoretiker Dirk Baecker entwickelt hat. Als nächste Gesellschaft bezeichnet er die Gesellschaft, die auf dem Computer als „geschäftsführender“ Medientechnologie basiert. Baecker geht dabei von der Vermutung aus, dass kaum etwas so große Bedeutung für die Strukturen einer Gesellschaft und die Formen einer Kultur hat wie die jeweils dominierenden Verbreitungsmedien. Folglich wird die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen haben wie zuvor nur die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks.

Diese nächste Gesellschaft bringt eine nächste Wirtschaft hervor, eine nächste Politik, eine nächste Wissenschaft und auch eine nächste Kunst. Und diese nächste Kunst wird, so Baeckers Prognose, ihre „hochkulturellen Fesseln“ sprengen und das – interessante Formulierung! – „Gefängnis ihrer Autonomie“ verlassen. Sie wird mit Formaten experimentieren, „in der die gewohnten Institutionen zu Variablen werden.

Wie ein Theater für die nächste Gesellschaft aussehen kann, kann ich konkret nicht sagen. Aber klar ist, das nächste Theater muss sich auf unsicheres Terrain begeben, vielleicht neue Orte, neue Zeiten und vermutlich auch ein neues Publikum suchen. Das nächste Schauspiel bleibt nicht unbeeindruckt von der Welt, in der es entsteht. Es befasst sich mit aktuellen Gegenständen des aktuellen Lebens, es nutzt dafür aktuelle Darstellungstechnologien und es operiert auf dem Boden alltagskultureller Tatsachen.

Ich bin gespannt. Und recht guter Hoffnung.