Koevolution und Bildung als Akteur-Netzwerk-Prozess

Vom 14.-16.9.11 findet in Frankfurt/M eine wirklich interessante Tagung statt. Manfred Faßler hatte eingeladen, anlässlich der tiefgreifenden und mit großer Geschwindigkeit sich verändernden wissenschaftlichen, technologischen und medialen Bedingungen menschlicher Lebensorganisationen und deren Auswirkungen auf weltweit alle sozialen, ökonomischen und kulturellen Systeme, über „Koevolution“ nachzudenken.
Eine Reihe interessanter Menschen (darunter übrigens auch unser Kölner Sommergast Koert van Mensvoort mit „next nature“) hat auf den CFP geantwortet und trägt nun aus verschiedenen Perspektiven vor: www.koevolution.uni-frankfurt.de

In meinem Beitrag frage ich mich, ob Bildungstheorie als Akteur-Netzwerk-Theorie gedacht werden kann:

Abstract: Bildung als Akteur-Netzwerk-Prozess

Homo Contextus
McLuhans These von den Medien als „Extensionen der Sinne“ lässt sich mit dem Konzept des homo contextus (Teemu Arina) radikalisieren. Unterscheidet sich der homo sapiens von anderen Primaten durch eine physisch vergrößerte Hirnmasse, so unterscheidet sich dieser homo contextus vom homo sapiens durch eine virtuell vergrößerte Hirnmasse, die sich konkret z.B. in Form aktueller Netzwerktechnologien über die physischen Limitierungen des Nervensystems hinaus entwickelt.
Das ist – im Prinzip – nichts Neues. Eine Anthropologie des Medialen weiß um die Koevolution der physischen, symbolischen und sozialen Werkzeuge, mit denen der Mensch sich (und seine Nachkommen) umgibt und von denen der Mensch umgeben ist (von seinen Vorfahren umgeben wurde). So hatte in der Gutenberg-Galaxis die Entwicklung der physischen, symbolischen und sozialen Werkzeuge rund um den Buchdruck für veränderte Umweltbedingungen kultureller Transmission gesorgt und so eine neue Techno- und Soziosphäre – von Régis Debray prägnant als Graphosphäre gefasst – hervorgebracht, in der sich die kollektive Intelligenz der europäischen Moderne ganz hervorragend entwickeln konnte.

Kollektivintelligenzen
Qualitativ neu an den durch global verbreitete Netzwerktechnologien geprägten, aktuellen Umweltbedingungen des Menschen ist zum einen die Geschwindigkeit, mit der die Informationen innerhalb der virtuell vergrößerten Hirnmasse übermittelt werden und interagieren können, zum anderen die Reichweite und damit der Umfang der virtuellen und kollektiven Hirnmasse. Zu erwarten bzw. in Teilen schon zu beobachten ist eine deutliche Zunahme der Leistungsfähigkeit, Wirksamkeit und Bedeutung symbolischer Kollektivintelligenz (Pierre Levy), die die Individualintelligenzen, die als „Genies“ und „Helden“ dem Anschein nach die Graphosphäre geprägt haben, überlagern wird.
Diesen neuen Qualitäten scheint das gegenwärtige Bildungssystem, das maßgeblich (und im doppelten Sinn) zur Bildung der europäischen Moderne beigetragen hatte, von Schule bis Universität nicht mehr ganz gemäß. Insbesondere die Schule scheint als Interface zwischen physischer und virtueller Hirnmasse in der gegenwärtigen Verfassung nicht mehr wirklich zu funktionieren. Die einst hoch produktiven Koevolutionsprozesse sind offenbar aus dem gemeinsamen Takt geraten.

Selbst- und Weltverhältnisse
Diesen Anschlussschwierigkeiten liegt ein wesentlich auf das 18./19. Jahrhundert zurückgehendes Verständnis von Bildung zugrunde, das diese als ein auf das Subjekt als Individuum (und das Individuum als Subjekt) bezogenes Phänomen denkt und deshalb nicht mehr kompatibel ist mit den wesentlich auf kollaborativen und netzwerkförmigen sozio-technischen Prozessen beruhenden Praktiken in globalen, digitalen Kommunikationsnetzen.
Daraus ergibt sich ein recht drängender Forschungsbedarf und eine konkrete Idee: Kann Bildungstheorie – und zwar konsequent – als Akteur-Netzwerk-Theorie gedacht werden? Können Bildungsprozesse als Transformationsprozesse von Selbst- und Weltverhältnissen (Rainer Kokemohr) begriffen werden im vollen Bewusstsein der materialisierten, virtualisierten und institutionalisierten Kultur – nicht nur als Rahmenbedingung, sondern als nicht-menschlicher Akteur – und unter den damit direkt verbundenen Vorzeichen einer radikal veränderten Subjektivität?

Education Design
Diese Fragen werden als Leitfragen eines Forschungsprojekts vorgestellt, das Grundlagen für eine zeitgemäße, mediologisch gedachte Theorie der Bildung entwickelt und diese in Form einer neuen Profession als Education Design in Anwendung bringt. Education Design begreift die Eigenschaften und Verhaltensweisen aller am Bildungsprozess beteiligten technischen Artefakte und sozialen Akteure als Gegenstand und Resultat wechselseitiger Verknüpfung und versteht diese als (potentielle) Handlungssubjekte, auf die mit Hilfe der Gestaltungsdisziplinen – hier insbesondere Architektur, Produktdesign, Visuelle Kommunikation, Medien-/Infodesign, Datatektur – Einfluss genommen werden kann.